Kollegiatstift St. Balbina im Rade

In geringer Entfernung von der Stadt Süchteln, östlich der Landstraße die heutigentags nach Viersen führt, standen fast 600 Jahre lang, inmitten eines Obstgartens zwei schlichte Wohnhäuser sowie ein Backhaus, eine Scheune und dabei ein ebenso bescheidenes Kirchlein. Sie bildete das Kollegiatstift zu Rade, eine von frommen Betern und Wallfahrern gern besuchte Stätte. Der Süchtelner Pfarrer Arnold Wilmius erwähnt in der Gottesdienstordnung von 1702 an zwei Stellen, daß eine Prozession von Süchteln nach dem Rade ziehe, nämlich am zweiten der Bittwoche und am Fronleichnamsfeste. Aber auch sonst wurde das Kirchlein im Rade von den Süchtelnern oft besucht, wenigstens in der Zeit, als das Kollegiatstift noch nicht dem Untergang geweiht war. Wie die Kirchenordnung aus dem Jahre 1518 bekundet, wurde dort des Sonntags eine Frühmesse mit Predigt gehalten. Ferner fand des Dienstags, Donnerstags und Samstags im Rade Gottesdienst statt. Manches arme, gedrückte Menschenherz mag in der einsamen Feldkapelle Trost und Erleichterung gefunden haben. Mit dem Beginne des 17. Jahrhunderts jedoch ließ das religiöse Leben im Rade wesentlich nach. Die Kapelle öffnete sich das ganze Jahr  hindurch fast kaum mehr der Andacht der Gläubigen. Sie lag still und öde in dem großen, überwuchernden Baumgarten. Trotz mancher Versuche im Laufe der folgenden Jahrzehnte, das kirchliche Leben im Rade zu heben, blieb es im großen und ganzen beim alten, bis die französische Revolution dem Kollegiatstift ein Ende bereitete.

Im Jahre 1220 bestätigt der Erzbischof Engelbert ( der Erste ) von Köln die Gründung eines Stiftes mit Kirche mit vier Kanonikern durch den Süchtelner Priester Ernestus auf dessen Erbgut, dem Rade ( Allod Rohde ). Nach einer späteren Aufzeichnung war die Kirche in Kreuzform errichtet worden und hatte vier Altäre, die zu Ehren der heiligen Balbina, des heiligen Kreuzes, der heiligen Mutter Gottes und der heiligen Katharina geweiht waren. Jeder der vier Kanoniker diente an einem der vier Altäre und genoß die dem Altare gemachten Zuwendungen, Benefizien genannt. Der Inhaber des Balbinaaltares besaß z.B. ein eigenes Haus, das im ganzen fünf Räume zählte. Die übrigen drei Kanoniker bewohnten ein Haus, das sechs Zimmer, zwei Keller und einige Nebenräume umfaßte, gemeinschaftlich. Ein großer Obstgarten und ein Gemüsegarten wurden von allen gemeinsam benutzt. Als es dieserhalb zu Streitigkeiten kam, schlossen die Kanoniker 1587 unter sich den Vergleich, fortan das Obst friedfertig zu teilen. Ein jeder aber wurde verpflichtet, alljährlich einen guten Apfel- oder Birnbaum zu pflanzen, widrigenfalls er seinen Anteil für das betreffende Jahr verlieren sollte. Zum Unterhalte der Kanoniker gehörten weiterhin 50 Morgen Acker, 6 Morgen Holzung und 2 Morgen Wiesen. Auf der Dülkener Bistard waren ferner noch 12 Morgen Ackerland Eigentum des Stiftes und von alters her gehörten dem Stift 16 Lat- und Kurmudgüter in Süchteln, Lobberich und Waldniel. Die Laten ( Besitzer ) dieser Höfe mußten ihren jährlichen Zins auf St. Nikolaustag entrichten und wurden bei dieser Gelegenheit von den Kanonikern zu einem gemeinschaftlichen Essen eingeladen. Auch besaß das Stift mehrere ausgeliehene Kapitalien, so eines von 600 Reichstalern, auf dem Kirchspiel Süchteln stehend. Im Jahre 1465 pachtete der Kanoniker Matthias an dem Vorst , mit anderen gemeinschaftlich auf mehrere Jahre den Zehnten im Fleck, sowie in Vorst, Sittard, Dornbusch und auf der Boisheimer Nette. 1457 wird Matthias an dem Vorst gemeinsam mit dem Kanoniker Heinrich to Weret als zur Barbara-Bruderschaft Süchtelns zugehörig genannt.

So hoffnungsfroh das Leben im Kollegiatstift zu Rade begonnen hatte, so traurig nahm es seinen Fortgang. Einige angesehene Familien hatten es verstanden, die Benefizien wie ein Erbe von Generation zu Generation zu übertragen. Nur selten noch nahm einer der Kanoniker Wohnsitz in dem Stifte selbst, vielmehr hatten die meisten eine Anstellung in der Umgebung oder in der Ferne und betrachteten die Einkünfte des Stiftes als nicht zu verachtende Nebenverdienste, ohne sich um die damit verknüpften Pflichten zu kümmern. 1681 heißt es in einer Beschwerde, daß die Wohnungen der Kanoniker unbewohnt und verfallen seien und im ganzen Jahr würde kaum eine heilige Messe gelesen. Keiner der damals eingetragenen Kanoniker wohnte am Ort; einer, Peter Urbani, war noch Gymnasiast in Neuß. Ältere Leute aus dem Rade erklärten, daß die Kapelle Monstranz, Weihrauchfaß und ewige Lampe besessen hätte. Von allem aber war nichts mehr zu finden. 1682 erging daraufhin eine bischöfliche Mahnung, den geregelten Kirchendienst wieder aufzunehmen, aber die Kanoniker Gerhard Scholteisen, Peter Urban Bahnen (Urbani), Johann Theodor Menghius und Johann Karckes schlossen 1687 einen Vertrag auf sechs Jahre, wonach der letztgenannte den Dienst gegen gewisse Nebeneinnahmen allein versehen sollte.

Erst 1716 schrieb der neue Kanoniker Heinrich Keupes in sein Tagebuch, daß er „seit Menschengedenken“ am Balbinafeste ( 31. Mai ) wieder das erste Hochamt gehalten habe. Am Fronleichnamstage desselben Jahres, so fährt er fort, die in früheren Zeiten gebräuchlich gewesene Predigt von der Kapelle wieder einzuführen, sei er durch einen plötzlichen Regen gehindert worden, doch habe er stattdessen von der Kanzel der Pfarrkirche herab gepredigt. Dem Posten des Kanonikers zu Rade und dessen Pflichten hat man sich aber auch danach nur äußerst ungern unterzogen. So klagte der aus Kempen stammende Kanoniker Plazidus Wäger 1769, daß es ihm schwer ankomme im Rade, „in der Einöde“, zu hausen und es wolle sich keine der Schwestern dazu verstehen, bei ihm zu wohnen.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts machte man einen letzten Versuch, das kirchliche Leben im Rade zu heben. Man verschaffte sich von dem Gladbacher Abt Lambert drei Reliquienpartikel der heiligen Balbina und erwirkte am 8. Januar 1790 vom Papste Pius VI. einen an den Besuch der Kapelle geknüpften Ablaß. Da wurden in der Nacht vor Fronleichnam 1795 durch einen Einbruch dem Kirchlein sämtliche Paramente gestohlen. Die französische Regierung erklärte das Kollegiatstift 1803 als ein dem Staate verfallenes Kirchengut und versteigerte Wald, Wiesen und zwei Häuser öffentlich in Aachen. 50 Morgen Ackerland des Stiftes wurden 1810 zur Dotation des Fürsten von Wagram geschlagen, der sie gegen eine angemessene Pachtsumme dem Süchtelner Ackerer Peter Kröpels überließ. Die Kirche wurde einige Jahre später zu 1000 Franken auf den Abbruch verkauft.

Der eine, der zwei damals noch lebenden Kanoniker, Hermann Jakob Rath, wurde schwachsinnig und starb bald nachher; der andere, Thomas Joseph Wäger, wurde Kaplan in Süchteln. Hatte auch das Stift in den beiden letzten Jahrhunderten seines Bestehens viel von seiner Bedeutung verloren, so bleibt die persönlich wehmütige Stimmung des letzten der Kanoniker begreiflich; Wäger, der zuletzt auch 10 Jahre als Lehrer im Flecken Süchteln tätig war, schrieb 1829 über sich: „Nur noch ein einziger von den Herren Kanonikern im Rade ist hier im Leben. Er steht ganz allein und sieht traurig über die Ruinen der Kirche und die Grabmale seiner Herren Konfratern, welchen er in die Ewigkeit bald folgen wird.“ Am 16. Dezember 1843, gerührt von einem Schlagflusse, schied er aus diesem Leben. Auf dem alten Friedhofe am Hagelkreuz fand er seine letzte Ruhestatt.

Karte von Süchteln mit der südlich gelegenen Sektion Rade von 1812 ( Der Pfeil markiert den Standort der Kirche auf der “Raderhöhe” )

Die Madonna aus der Kapelle St.Balbina im Rade befand sich 1960 in Privatbesitz eines Frl. H. auf der Gartenstraße in Süchteln. Beim Abbruch der Kapelle 1803 war die Madonna von einer Familie, die in der Nähe wohnte, angenommen und dort aufbewahrt worden. Die Statue war durch einen volkstümlich-frommen Stil ausgezeichnet und trotz ihres hohen Alters unversehrt. Die Gottesmutter stand vor einem mit goldenen Sternen übersäten blauen Hintergrund, den Jesusknaben auf der Hand haltend. Darüber wölbte sich ein Baldachin. Die ganze Form und die in zarten Tönen gehaltenen Farben kennzeichneten den Geist und die Religiösität einer anderen, längst vergangenen Zeit.

Bei dem in der Bildunterschrift genannten Frl. H. von der Gartenstraße, handelte es sich um Fräulein Adele Hohnen ( ehemals Haushälterin bei Endepohls im Hause Hochstraße 1 ). Adelchen wohnte die letzten 10 Jahre ihres Lebens auf der damaligen Gartenstraße 18 ( heute Anne-Frank-Straße ). Nach ihrem Tode vermachte sie, neben anderen alten Sammlerstücken, die Statue der Madonna vom Rade der katholischen Kirchengemeinde St. Clemens und Pastor Dapper kam damals persönlich, um die Statuette abzuholen. Heutzutage befindet sich die Madonna im Eingangsbereich des Irmgardis-Krankenhauses in Süchteln, allerdings leider ohne den reichverzierten Baldachin. Als letztes erhalten gebliebenes Relikt der Stiftskirche St. Balbina, ist die Madonna heute sozusagen ein Symbol für den Widerstand gegen das Vergessen und stellt eine lebendige Verbindung in das Jahr 1220 her, als der Süchtelner Priester Ernestus auf seinem Allod Rhode den Grundstein legte für das Kollegiatstift St. Balbina.

Die Madonna mit dem Jesusknaben

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